… das geht ja gar nicht in Corona-Zeiten!
Sträflich leichtsinnig, ja sogar strafbar, was Jesus da macht: Er haucht seine Jünger an. Auf diese Weise schenkt er ihnen den Heiligen Geist. Freilich zur Zeit des ersten Pfingstfestes war Corona mit damit verbundenen Hygiene-Schutz-Konzepten war kein Thema. Und das Evangelium wird allen geforderten Maßnahmen und Vorgaben standhalten können. Aber interessant ist und bleibt es schon, dass Jesus seinen Jüngern seinen Atem ins Gesicht haucht.
Das Leben hängt am Atem…
In den letzten Wochen sind uns Bilder aus Intensivstationen ins Haus geliefert worden, die zeigen, wie Corona-Patienten beatmet werden müssen, weil das, was uns eigentlich von Natur aus gegeben ist, was darum eigentlich ganz von alleine geschieht, so nicht mehr geschehen ist. Ohne diese medizinische Hilfe hätten Menschen sterben müssen, manches Menschenleben endete trotz solcher Unterstützung.
Das Leben hängt am Atem. Todesangst befällt den, der unter Atemnot leidet. Und wenn wir unseren letzten Atemzug getan haben, sind wir tot. Mit dem Atem hauchen wir unser Leben aus. Und vorher hat wie oft der Atem, den wir loslassen, unsere Worte mitgenommen. „Sprechen“ nennen wir das. Wie schön ist es, wenn eine Melodie unser Sprechen dann zum Gesang werden lässt! Wie freuen wir uns daran, wenn Musiker mit ihrem Atem ein Blasinstrument zum Leben bringen. Eine Mama haucht auf die Wunde, die sich ihr Kind beim Spielen zugezogen hat; und der Schmerz ist fast wie weggeblasen.
Alles recht und schön. Das kennen wir. Davon wissen wir. Aber warum haucht Jesus seinen Jüngern ins Gesicht?
Gott schenkt neues Leben
Mich erinnert diese Szene im Abendmahlssaal von Jerusalem an die Schöpfungsgeschichte, die uns im ersten Buch der Bibel erzählt wird. Da heißt es, dass Gott den Menschen erschuf und ihm dann durch die Nase den Lebensatem einhauchte. Wie damals am Anfang bei der Erschaffung des Menschen soll jetzt den Jüngern Jesu das Leben eingehaucht werden: „Empfangt den Heiligen Geist!“ Er beatmet sie, damit sie neu zu leben beginnen und andere zum Leben einladen können. Er begeistert sie, damit sie begeistert werden und andere begeistern können.
Gott haucht am Anfang dem Menschen seinen Geist ein, damit er als ein Abbild Gottes lebt. Jesus haucht den Jüngern seinen Geist ein, damit sie in seiner Nachfolge leben. Und mit dieser Gabe des Lebens sind auch Vollmachten verbunden: bei der Schöpfung erhält der Mensch das Recht, alle anderen Geschöpfe zu benennen, in Dienst zu nehmen aber auch zu bewahren; Jesus gibt seinen Jüngern die Vollmacht, Sünden nachzulassen und zu vergeben.
Unter der Zusage des Friedens
Das alles geschieht unter der ersten Zusage des Auferstandenen an jenem Abend im Obergemach auf dem Zion: „Friede sei mit euch!“ Und auch dieser Friedensgruß erinnert an den Anfang der Heiligen Schrift, an die Erschaffung des Menschen. Damals war alles in Ordnung. Der Mensch, geschaffen nach Gottes Ebenbild, von dem der Schöpfer feststellen darf, nachdem er ihn am Ende des sechsten Schöpfungstages noch einmal in Blick genommen hatte: „Es war sehr gut.“ Alles im Lot. Mit einem Wort Shalom. Das ist Einklang und Harmonie mit Gott, mit den Menschen, mit allen Geschöpfen, Frieden mit sich selbst.
Shalom – das ist der Zustand des Paradieses. Shalom – das ist das Wesen des Reiches Gottes, das Jesus unentwegt verkündigt hat. Shalom – das ist auch das Ziel unseres Lebens.
Mit seinem Friedensgruß im Obergemach auf dem Zion stellt Jesus diesen heilen Zustand des Anfangs wieder her und macht zugleich Hoffnung auf Vollendung in eben wieder diesem Zustand. Aber das, was am Anfang war und dann verloren gegangen ist – Shalom – das, was einmal in Vollendung sein wird, aber heute noch nicht vollkommen ist – Shalom – lebt nicht nur in der Erinnerung an einen heilen Anfang, nicht nur in der Hoffnung auf eine heile Vollendung, sondern mag heute erfahrbar und greifbar werden.
Und darum feiern wir Pfingsten. Der göttliche Lebensatem wird uns eingehaucht, damit wir nicht vergessen, dass wir Menschen nach Gottes Abbild geschaffen und dass wir als geliebte Kinder mit der großartigen Verheißung von Vollendung unterwegs sind.
Für das Dazwischen, für das Heute, für diesen Moment und alle weiteren, die wir erleben dürfen, mag uns der Heilige Geist helfen, durchzuschnaufen, wenn uns etwas schwer fällt, aufzuatmen, wenn uns etwas gelingen durfte, manchmal vielleicht auch die Luft anzuhalten, wenn schlechtes Klima mit dicker Luft vorherrscht. Gottes Heiliger Geist mag uns stützen, auch trösten, wenn so viel Unheilvolles geschieht im Großen der Weltgeschichte wie im Kleinen unseres ganz persönlichen Daseins.
Und er mag uns aufmerksam machen, wo es uns im Miteinander gelingen kann, Heil zu erfahren und aneinander weiter zu schenken. Mit seiner Kraft lasst es uns tun, damit die Menschlichkeit nicht Atemnot leidet, damit unserer Gesellschaft nicht Erstickungsgefahr droht und damit der Gemeinschaft der Kirche nicht die Luft ausgeht auf ihrem Weg durch Zeit und Welt. Damit gilt: Gottes Geist erneuert das Angesicht dieser Erde.
Frohe Pfingsttage!
Ihr Pfr. Robert Neuner